Müssen wir unsere Versprechen einhalten?

Wir finden zunächst viele Beispiele für Versprechen. Da ist natürlich das Eheversprechen, das Freundschaftsversprechen, ein Versprechen zu helfen, da zu sein, etwas bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Häufig sind es Sätze zu anderen in der Form: Ich verspreche dir (…). Durch ein Versprechen wollen wir Vertrauen in einer Beziehung schaffen. Mit der Einhaltung von Versprechen wächst das Vertrauen in die Beziehung.

Versprechen haben die Funktion, Vertrauen einer Beziehung zu schaffen.

Diesmal werden in den Beispielen gegensätzliche Auffassungen deutlich. Da ist auf der einen Seite das Argument, dass Versprechen etwas sehr Wertvolles sind, die darum auch unbedingt einzuhalten sind. Auf der anderen Seite wird das Argument vertreten, dass zum Zeitpunkt des Versprechens niemals alle zukünftigen Bedingungen vorher gesehen werden können. Daher sollten Versprechen auch auflösbar sein.

Ein Versprechen bezieht sich immer auf einen zukünftigen Sachverhalt, der von der Gegenwart aus nicht vorhersehbar sein kann.

Da ist zum Beispiel das Versprechen, die Eltern bis zum Tod zu Hause zu begleiten und wenn notwendig zu pflegen. Nun kann der Aufwand nicht mehr bewältigt werden und den Eltern geht es nicht gut zu Hause. Da ist das Versprechen, beim Umzug zu helfen. Jetzt ist ein Urlaub geplant oder eine Erkrankung kommt dazwischen. Da ist das Versprechen, bis zum Lebensende miteinander in der Ehe zu leben. Nun ist die Liebe erloschen und das Zusammenleben unerträglich geworden.

Treten unvorhersehbare Umstände ein, kann oder will ich mein Versprechen möglicherweise nicht einhalten.

Aber ist es gerechtfertigt, den hohen Wert eines Versprechens aus persönlichen Gründen in Frage zu stellen, indem ich mein Versprechen nicht einhalte? Was wird dann aus diesem Wert? Es werden Beispiele genannt von Lebensbereichen, in denen ein Versprechen nicht mehr viel gilt. Da sind die Versprechen der Werbung, immer wieder Versprechen von Politikern, manchmal auch Versprechen von Handwerkern und Autowerkstätten.

Werden Versprechen immer wieder nicht eingehalten, schwindet unser Vertrauen.

Wenn aber auf der einen Seite klar ist, wir können nicht alle Versprechen einhalten, auf der anderen Seite jedoch ebenso erfahrbar, dass die Einhaltung eines Versprechens erst seinen Wert begründet, wie kommen wir nur aus dieser Klemme heraus? Einerseits ist uns der Wert an sich wichtig, andererseits fordern uns in der Lebenspraxis ständig neue Bedingungen heraus.

Wir geraten in ein Dilemma zwischen dem Wert eines Versprechens und den sich wandelnden Anforderungen der Welt an uns.

Aus diesem Grund erscheint uns nun einzig eine geregelte Auflösbarkeit eines Versprechens als Lösung. Da ist der Vorschlag, wer ein Versprechen annimmt, kann dieses auch wieder zurück geben, wenn Argumente und Gründe dies rechtfertigen. Da ist der Vorschlag, ich sei bei sehr wesentlichen Veränderungen der Gründe für ein Versprechen nicht mehr an mein Versprechen gebunden.

Es scheint, dass die Ausnahme von der Regel erst ein moralisches Gebot bekräftigt.

Ein Versprechen ist immer einzuhalten, das ist die Regel. Das moralische Gebot entsteht erst durch die notwendige Ausnahme von der Regel. Wir sind moralisch herausgefordert als Menschen. Regeln befolgen können bereits Automaten.

Machen wir die Welt besser?

Zunächst befragen wir die Frage. Was ist „besser“? Wer sind „wir“? Was ist „die Welt“? Im Philosophischen Café Von wegen Sokrates philosophieren wir von der Erfahrung aus. Vom Beispiel aus suchen wir das Allgemeine zu erfassen. Davon ausgehend sprechen wir selbst von unserer Erfahrung der Welt und unserem Gefühl für „besser“.

Im Philosophischen Café Von wegen Sokrates philosophieren wir von der Erfahrung aus.

Also suchen wir Beispiele dafür, wo oder wie wir die Welt besser machen. Da erzählt eine davon, wie sie Kindern in der Grundschule vorliest. Ein anderer empfindet es als gute Entwicklung, dass viele Menschen auf ihre Sprache achten und weniger Menschen sprachlich ausgegrenzt werden. Mehrere finden es wichtig, beim Einkaufen auf die Nachhaltigkeit der Produkte zu achten oder erst gar nicht zu kaufen.

Wir finden viele Beispiele für Handlungen, welche unserer Einschätzung nach die Welt besser machen.

Und wir hören auch kritische Beiträge. Wie können wir wissen, was für andere Menschen „besser“ ist? Bezeichnet es nicht bereits ein Machtgefälle, wenn wir davon sprechen, wie „gut“ wir über andere sprechen? Inwiefern haben wir Einfluß auf die Produktion und Nachhaltigkeit, auf den Warenverkehr und den Ressourcenverbrauch? Und woher wissen wir überhaupt, dass dies die Welt besser macht?

Unser Gefühl für „besser“ scheint nicht allgemein gültig zu sein.

Unser Gespräch führt uns in ein Dilemma. Wir haben das sichere Gefühl aus der Erfahrung, dass wir die Welt mit guten Handlungen zumindest in unserer unmittelbaren Welt besser machen. Wir können jedoch das Weltganze nicht überblicken oder verstehen und kennen weder das universelle „besser“ noch die Konsequenzen unserer Handlungen bevor sich diese einstellen.

Die Konsequenzen unserer Handlungen kennen wir erst nachdem wir uns bereits entschieden haben.

Wir behelfen uns mit der Erfahrung der Konsequenzen früherer Erfahrungen. Für einen guten Umgang mit den Ressourcen in der Welt können wir die Daten der Wissenschaften nutzen. Um andere Menschen zu verstehen und zu achten können wir öfter mit ihnen sprechen, als über sie. So finden wir auch heraus, ob wir die Welt anderer Menschen besser machen, wenn wir handeln.

Gerade weil wir nicht immer wissen, sollten wir achtsam der Welt begegnen.

Vielleicht können wir nicht immer wissen, wie wir die Welt besser machen. Aber wir können versuchen, achtsam zu sein und sie zumindest nicht schlechter zu machen.

Sind wir alle für uns allein oder gehören wir zusammen?

Heute ist es gleich schon am Anfang so weit. Die Frage des Cafés wird befragt. Warum denn „oder“? Sind wir nicht alle in der Erfahrung zunächst alleine, auf unsere eigenen Sinne angewiesen in der Verbindung zu anderen? Und sind wir dann nicht alle zusammen verbunden in der Erfahrung, dass wir niemals ganz alleine gewesen sind, unser ganzes Leben lang?

Unser Alleinsein scheint uns zu dem Gedanken zu führen, dass wir je immer schon mit anderen verbunden sind.

Du wirst gezeugt und geboren, gepflegt und betreut, erfährst dich und entwickelst deine Fähigkeiten. Immer mit anderen zusammen. Doch „gehören“ wir auch zusammen? Ist es denn nicht das Entwicklungsziel aller Menschen, alleine zurecht zu kommen? Das Leben ganz und gar nach den eigenen Wünschen und Fähigkeiten zu gestalten? Im Gefühl des zusammen Gehörens schwingt etwas wie ein moralisches Sollen mit.

Wenn wir auch immer schon verbunden mit anderen sind, ist dies auch die moralisch gebotene Form des Menschseins?

Sollen wir uns nicht eher von den anderen emanzipieren, autonom sein und frei, für uns selbst handeln und denken? Es scheint beides zu geben. Wir sind gebunden an eine Familie, Partner*in, Kinder, Freunde, Verein, Unternehmen und fühlen hier eine Pflicht zur Loyalität. Doch nur mit uns alleine können wir uns selbst klar spüren, ob wir meditieren, laufen, den Jacobsweg gehen oder im Kloster schweigen..

Getrennt von den anderen werden wir uns unserer Bedürfnisse bewusst.

Und hier spüren wir deutlich, dass wir in Verbundenheit mit anderen sein wollen, jedoch auf unsere Weise, so dass wir uns selbst in der Gemeinschaft wohl fühlen. Es scheint also weniger ein moralisches Gebot als ein menschliches Bedürfnis zu sein, nach Zusammengehörigkeit zu streben. Und vielleicht liegt das Geheimnis in der Form des „Strebens“ danach. Wir sind noch einzeln, allein. Und wir wünschen uns verbunden zu sein, zusammengehörig.

Weil wir nach Zusammengehörigkeit streben, sind wir es nie ganz und doch auch nicht mehr allein.

Die Form des „danach Strebens“ ist die des Philosophierens, des Strebens nach, der Liebe zu Wissen oder Weisheit. Philosophische Weisheit, das könnte sein, nach Verbundenheit zu streben und nicht darüber zu klagen, niemals ganz in der Verbundenheit aufgehen zu können.

Darf ich manchmal lügen?

Heute fällt es nicht schwer, Beispiele zu finden. Lügen, also Sachverhalte oder Ansichten nicht so zu sagen, wie sie unseres Wissens wirklich sind, das machen wir schließlich alle manchmal. Oder auch häufiger. Wir reden uns heraus aus schwierigen Situationen. Stellen uns besser dar als wir sind. Schmücken uns mit „fremden Federn“. Machen der Partnerin zu schöne Komplimente. Aber: dürfen wir das?

Unsere Aussagen haben auch immer eine Bedeutung jenseits des Sachverhalts.

Um die Frage einer moralischen Rechtfertigung zu klären, suchen wir die Motive in den Beispielen. Wir wollen uns selbst schützen vor unangenehmen Folgen unserer Taten. Wir wollen unser Gegenüber überzeugen, wir nutzen Gelegenheiten, uns gegenüber anderen aufzuwerten, wir wollen nicht zuletzt Beziehungen pflegen und erhalten. Menschlich allzu menschlich. Aber auch wirklich in einem guten Sinne?

Lügen ist menschlich und hilft uns dabei, Herausforderungen des Lebens zu bewältigen.

Doch haben wir auch Zweifel. Schließlich haben unsere Lügen auch Folgen. Was ist mit der Beziehung, die an einer andauernden Sprachlosigkeit zerbricht? Was ist mit den Lügen, die immer wieder neue Lügen erfordern, um nicht aufzufallen? Was ist, wenn der „Geschützte“ dies gar nicht wollte? Oder es überhaupt nicht die erwünschten „guten“ Folgen hat? Oder nicht zuletzt mit dem zerbrechlichen Gut des „Vertrauens“ zwischen den Menschen?

Lügen kann uns auch schaden, nicht immer gelingt es, dies angemessen abzuwägen.

Da ist der kurzfristige „Gewinn“ gegen den langfristigen Schaden. Da ist die Vermeidung des Konflikts gegen eine Chance zur Entwicklung der Beziehung. Da ist unsere unmittelbare Emotion gegen eine rationale Erwägung von Argumenten. Da ist ein leichtes und schnelles „Strahlen“ der eigenen Person gegen eine authentische und aufrichtige Persönlichkeit.

Kurzfristig scheinen wir eher zur Lüge zu neigen, auf lange Sicht suchen wir eher das gut überlegte moralische Argument.

Gelingt es uns, den ersten Impuls abzuwarten, können wir uns moralisch entscheiden. Eine Lüge im oben genannten Sinne mag moralisch geboten sein. Sie scheint es jedoch weit seltener, als wir tatsächlich lügen. Philosophierend sind wir dem Streben nach der Wahrheit verbunden. Als Menschen können wir uns entscheiden und unsere Motive und mögliche Folgen vorab überprüfen.

Prüfe, welche Wirklichkeit dem Leben angemessen ist!

Vielleicht gelingt es uns dann häufiger, wahrhaftig zu bleiben. Und uns die Freiheit zu Entwicklung zu schenken.

Darf ich manchmal Gewalt anwenden?

Wir suchen Beispiele für Gewalt, die uns gerechtfertigt vorkommt. Da erzählt jemand von Notwehr bei einem handgreiflichen Angriff auf die eigene Person. Aber damals habe er friedlich bleiben wollen – und mit einer blutenden Nase bezahlt. Eine andere erzählt, dass sie früher in der Schule dazu aufgefordert wurde, doch einmal zurück zu schlagen. Dieser Ansicht sei sie jedoch nun nicht mehr. Ein anderer erzählt von Beleidigungen und rassistischen Anfeindungen, auf die er mit Fäusten reagiert hat. Jedoch glaubt er heute, dass es bessere Antworten gibt.

Gerechtfertigt erscheint uns körperliche Gewalt gegenüber anderen, wenn die eigene Person bedroht ist.

Wir sprechen auch über andere Formen von Gewalt. Jemand erzählt, dass sie sehr viel Ausgrenzung erfahren hat als eine Form psychischer Gewalt. Oder ein anderer berichtet, wie er aus Wut einen Schrank zertrümmert hat. Und sie berichtet davon, dass physische Gewalt, wenn sie präventiv eingesetzt wird, weitere Gewalt verhindern kann. Gewalt kann viele Formen haben. Einige andere haben Zweifel, ob Gewalt hilfreich ist, wenn wir als Ziel weitgehende Gewaltlosigkeit anstreben.

Individuelle Gewalt mag manchmal gerechtfertigt erscheinen – für ein allgemeines Ziel von Gewaltlosigkeit scheint sie ungeeignet

Es scheint – wie so oft – einen Widerspruch zwischen individueller Praxis und einem erstrebenswerten Ideal zu geben, zwischen Moralität und Ethos. Als eine Lösung für dieses Dilemma erkennen wir das Konstrukt der Staatsgewalt. Jeder einzelne überträgt sein Recht auf Schutz der eigenen Person weitgehend auf eine juristische Institution. Nur haben sich die Hoffnungen auf eine gerechte – und damit gewaltfreie – Gesellschaft (vielleicht: noch) nicht erfüllt.

In einer idealen und damit gerechten Gesellschaft wäre die Frage der Gewalt gelöst und stellte sich nicht mehr den Individuen.

Doch es kommen auch Bedenken. Uns fallen zu viele dystopische Romane ein, in denen zwar allgemeine Gerechtigkeit zu herrschen scheint, Herrschaft als solche jedoch eher gewaltvoller ausgeübt wird. Wenn wir es mit der Gewaltlosigkeit ernst meinen, braucht es wohl mehr als eine gute Idee.

Bis dahin sind wir wohl auch stets auf’s Neue philosophisch herausgefordert, ob wir (manchmal) Gewalt anwenden dürfen.

Warum bleibt der Rest nicht still, wenn mensch liebt, den mensch will?

Was empfindest du, wenn dein Sohn dir seinen neuen Mann vorstellt? Wie verhältst du dich, wenn die freundlichen Nachbarinnen dich zu ihrer Hochzeit einladen? Schenkst du dem Kind, dass deine schwulen Freunde adoptiert haben auch einen Kuschelhasen? Was sagst du einer Freundin, die nun dein Freund sein möchte?

Wir haben viel erreicht in der Gesellschaft. Viele Lebensformen und geschlechtliche Identitäten erfahren mittlerweile Anerkennung, gesellschaftlich und juristisch. Und doch zeigt der teils laut und manchmal sogar feindselig ausgetragene gesellschaftliche Diskurs, dass wir noch nicht angekommen sind. Nicht angekommen in einer Gesellschaft, in der Menschen einfach den Menschen lieben, versorgen und das gemeinsame Leben teilen, ohne dass es darüber eines Diskurses bedarf.

Vielleicht haben wir schon immer eines gesellschaftlichen Diskurses bedurft, wenn es um die sexuellen Verhältnisse geht.

Wir fragen uns, warum das so ist.

Wir wollen zum Beispiel uns orientieren, wie wir unserem Nachbarn begegnen. Welche Werte werden gelebt, was wird von mir erwartet, was muss ich erwarten. Eine Vielfalt der sexuellen Verhältnisse kann auch verunsichern. So begegnen wir uns oft mit innerer Anspannung und Vorbehalten.

Der gesellschaftliche Diskurs um die sexuelle Liebe bedeutet für uns die Möglichkeit der Identitätsbildung. Wen und wie ich mensch liebe bedeutet auch immer einen wesentlichen Teil meines Selbstverständnisses. Ohne ein Außen, dass meine sexuelle Identität wahrnimmt und spiegelt, kann ich mein Selbstverhältnis nicht ausleben. Jedoch gibt es auch sehr negative oder ablehnende Bewertungen meiner sexuellen Identität. Diese können mich hindern, zu einem von mir auch wahrhaft empfundenen sexuellen Selbstverhältnis zu gelangen.

Regeln der sexuellen Verhältnisse haben auch stets einen Bezug zu Besitz und Herrschaft. Vor allem, wenn Kinder hinzu kommen, sichert der gesellschaftliche Diskurs Eigentum und Erbschaften. Wir können die jeweiligen gesellschaftlichen Herrschaftsdiskurse kritisieren und einzelne sogar ablehnen. Aber den Diskurs als solches können wir nicht beenden.

Auch braucht es den Diskurs, um Grenzen des Auslebens sexueller Lust festzulegen. Sexuelle Gewalt und sexuelle Ausbeutung wollen wir in der Gesellschaft möglichst unterbinden. Dies steht in Konflikt mit der Freiheit jedes Menschen, Intimes und Privates für sich behalten zu dürfen. Inzwischen ist so manche juristische Grenze verschoben worden, um diesen Konflikt gesellschaftlich zu befrieden.

Aus vielen Gründen ist der gesellschaftliche Diskurs um die sexuellen Verhältnisse der Einzelnen notwendig. Wir können dafür sorgen, dass der Diskurs friedlicher wird und allen Menschen einen angemessenen Raum ermöglicht, einfach mensch zu sein.

Wieviel bestimmen wir selbst, wer wir sind?

Wer wir sind, das wissen wir ja: Name, Alter, Geschlecht, Wohnort, Beruf, Partner*in, Kinder… Wieviel davon haben wir selbst bestimmt? Sind wir vielleicht nur die Zeugen unserer Biographie?

Die Beweislage ist erdrückend. Noch bevor wir den ersten Gedanken reflektieren, haben wir etwa zwei Jahrzehnte in Abhängigkeit von anderen Menschen gelebt. Wir haben gelernt, wie wir uns an die Bedingungen, die andere festlegen, anpassen, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Was wir als uns selbst bezeichnen, dass sind mühsam und leidvoll erworbene Anpassungsleistungen an die Welt, die wir nicht beeinflussen können. Noch dazu bildet sich unser „Selbst“ – ein Set von psychischen und leiblichen Bewältigungsmustern – in einer Zeit fast vollständig aus, in der wir besonders abhängig sind, in der Gebärmutter und einige Monate danach.

Überleben ist scheinbar alles, keine Spur von der Frage nach dem „guten Leben“?

Und doch taucht die Frage auf. Und die Frage spricht: Werde der du sein wirst! Wir spüren, wenn wir uns selbst nicht entsprechen. Wir spüren, wenn die Freiheit anklopft. Wir wollen „Selbst“ sein.

Ein Beispiel. Ich stehe an der roten Ampel. Die Straße ist menschenleer. Kein Auto, nicht einmal in der Ferne. Noch stehe ich hier. Ich bin auf mich selbst geworfen. Folge ich der Vernunft und warte oder folge ich meinem Impuls und fühle mich frei, die Regel zu brechen?

Es wird deutlich, dass sich kein „Nullpunkt“ für das sich selbst Bestimmen finden lässt.

Stets beziehe ich mich auf eine Regel. Ob ich sie befolge oder widerspreche, was daran bedeutet „mir selbst zu folgen“? Wohl am Meisten noch, dass ich überhaupt nicht daran denke, wie ich mich entscheide.

Noch ein Beispiel. Ich halte die Bio-Heidelbeeren in der Hand. Sie kommen von weit her. Wohl mit dem Flugzeug. Soll ich diese kaufen? Ich esse gerne Heidelbeeren. Auch gesund sollen sie sein. Aber ich will auch klimasensibel einkaufen. Wer bin ich „selbst“? Ich bestimme, dass ich heute die Heidelbeeren kaufe, aber in der nächsten Woche nicht.

Ich bestimme, wer ich selbst sein will und werde auch über eine Reflexion meiner Werte.

Ich habe das Gefühl, ich selbst zu sein, wenn ich auf meinen Werten bestehen und mein Handeln danach ausrichten kann. Und an den „Rändern“ meiner selbst scheint sich mein Selbst aufzulösen, wenn ich nicht mehr darüber nachsinne. Dann fühle ich mich auf eine besondere Art ebenfalls ganz „Selbst“.

Manchmal bin ich Zeuge. Und manchmal bin ich Selbst. Das Selbst ist keine Zugabe zur Person, dass diese besitzt. Eher ein Ausdruck innerer Stimmigkeit.

Wie allgemein verbindlich können unsere Werte sein?

Jeden Tag begegnen uns moralische Fragen. Darf ich das letzte Croissant aus dem Brotkorb nehmen? Darf ich eine Ausrede erfinden, warum in nicht zurück gerufen habe? Soll ich meiner Nachbarin ehrlich sagen, wie ich die neue Hose finde? Darf ich ehrlich sagen, dass ich ein Geschenk nicht mag? Die Liste wird täglich länger.

Wie schön wäre es, wenn ich einen moralischen Kompass hätte, der mir jederzeit klar Auskunft gibt, was ich tun soll. Und wenn schon nicht für jede Einzelheit, so doch wenigstens in den großen Fragen.

Denn das ist ja bekanntlich die moralische Frage schlechthin: Was soll ich tun?

Nun, nicht, dass es nicht schön wäre. Und die gegenteilige These, es gebe überhaupt keine allgemein verbindlichen Werte, lässt mich eher erschrecken. Doch bedeutet der Wunsch allein noch kein Argument. Was fällt mir also ein?

Nehme ich das letzte Croissant? Einfach so sicher nicht. Ich frage also meine Tischgenoss*innen. Freundlich erhalte ich die Auskunft, niemand möchte das Croissant. Gerne greife ich zu.

Doch, ach je, mich ergreift ein ungutes moralisches Gefühl.

War es vielleicht nur Freundlichkeit und ich beanspruche doch ungerechtfertigt das Croissant? Auf wie viele Croissants darf ich also Anspruch erheben? Gleich viele, wie alle anderen? Aber nicht alle mögen doch Croissants. Gleichwertig in Relation zum Geschmack der Tischgenoss*innen? Oh je, das wird kompliziert. ..

Neuer Versuch. Darf ich eine Ausrede erfinden? Also lügen? Unter welchen Umständen? Sicher reicht es moralisch nicht hin, wenn ich mir durch die Ausrede eigene Nachteile erspare. Vielleicht wenn ich durch die Ausrede dem anderen Nachteile erspare? Wie sollte ich das wissen? Darf ich also niemals Ausreden erfinden? Ich soll immer die Wahrheit sagen.

Ach, mir fallen sogleich Beispiele ein, in denen ich es zumindest moralische bedenkenswert finde, die Wahrheit zu sagen, weil ich andere damit vielleicht verletze.

Wahrscheinlich verletze ich meine Nachbarin damit, wenn ich ihr meine ehrliche Meinung über ihre neue Hose eröffne. Eine „kleine“ Lüge schützt uns beide vor unangenehmen Gefühlen. Auch mein Freund wird sich wohl besser fühlen, wenn ich ein „klein wenig“ über sein Geschenk lüge, oder? Ein Geschenk ist meist doch eine Geste der Zuwendung und Freundschaft, unabhängig vom „Inhalt“ des Geschenks. Jedoch scheint es unmöglich allgemein festzulegen, wann es moralisch richtig sein kann, zu lügen und wann nicht.

Was hat es nur mit diesem moralischen Gefühl auf sich, das ich immer wieder bemühe, wenn ich nicht sicher bin, woran ich mein Handeln ausrichten soll? Könnte darin ein Hinweis liegen, hin zu einem allgemein verbindlichen Wert?

Ein Wert begleitet mich bereits durch den ganzen Text. Ich bin bemüht einzuschätzen, was mein Handeln für die anderen bedeutet.

Der Wert trägt den schönen Namen Mitgefühl.

Mitgefühl als ein achtsames Wahrnehmen, was der andere fühlt, verbunden mit dem wahrhaftigen Wunsch, Gutes für den anderen zu bewirken.

Sollte dies nicht ein allgemein verbindlicher Wert für alle Menschen sein?