Jeden Tag begegnen uns moralische Fragen. Darf ich das letzte Croissant aus dem Brotkorb nehmen? Darf ich eine Ausrede erfinden, warum in nicht zurück gerufen habe? Soll ich meiner Nachbarin ehrlich sagen, wie ich die neue Hose finde? Darf ich ehrlich sagen, dass ich ein Geschenk nicht mag? Die Liste wird täglich länger.
Wie schön wäre es, wenn ich einen moralischen Kompass hätte, der mir jederzeit klar Auskunft gibt, was ich tun soll. Und wenn schon nicht für jede Einzelheit, so doch wenigstens in den großen Fragen.
Denn das ist ja bekanntlich die moralische Frage schlechthin: Was soll ich tun?
Nun, nicht, dass es nicht schön wäre. Und die gegenteilige These, es gebe überhaupt keine allgemein verbindlichen Werte, lässt mich eher erschrecken. Doch bedeutet der Wunsch allein noch kein Argument. Was fällt mir also ein?
Nehme ich das letzte Croissant? Einfach so sicher nicht. Ich frage also meine Tischgenoss*innen. Freundlich erhalte ich die Auskunft, niemand möchte das Croissant. Gerne greife ich zu.
Doch, ach je, mich ergreift ein ungutes moralisches Gefühl.
War es vielleicht nur Freundlichkeit und ich beanspruche doch ungerechtfertigt das Croissant? Auf wie viele Croissants darf ich also Anspruch erheben? Gleich viele, wie alle anderen? Aber nicht alle mögen doch Croissants. Gleichwertig in Relation zum Geschmack der Tischgenoss*innen? Oh je, das wird kompliziert. ..
Neuer Versuch. Darf ich eine Ausrede erfinden? Also lügen? Unter welchen Umständen? Sicher reicht es moralisch nicht hin, wenn ich mir durch die Ausrede eigene Nachteile erspare. Vielleicht wenn ich durch die Ausrede dem anderen Nachteile erspare? Wie sollte ich das wissen? Darf ich also niemals Ausreden erfinden? Ich soll immer die Wahrheit sagen.
Ach, mir fallen sogleich Beispiele ein, in denen ich es zumindest moralische bedenkenswert finde, die Wahrheit zu sagen, weil ich andere damit vielleicht verletze.
Wahrscheinlich verletze ich meine Nachbarin damit, wenn ich ihr meine ehrliche Meinung über ihre neue Hose eröffne. Eine „kleine“ Lüge schützt uns beide vor unangenehmen Gefühlen. Auch mein Freund wird sich wohl besser fühlen, wenn ich ein „klein wenig“ über sein Geschenk lüge, oder? Ein Geschenk ist meist doch eine Geste der Zuwendung und Freundschaft, unabhängig vom „Inhalt“ des Geschenks. Jedoch scheint es unmöglich allgemein festzulegen, wann es moralisch richtig sein kann, zu lügen und wann nicht.
Was hat es nur mit diesem moralischen Gefühl auf sich, das ich immer wieder bemühe, wenn ich nicht sicher bin, woran ich mein Handeln ausrichten soll? Könnte darin ein Hinweis liegen, hin zu einem allgemein verbindlichen Wert?
Ein Wert begleitet mich bereits durch den ganzen Text. Ich bin bemüht einzuschätzen, was mein Handeln für die anderen bedeutet.
Der Wert trägt den schönen Namen Mitgefühl.
Mitgefühl als ein achtsames Wahrnehmen, was der andere fühlt, verbunden mit dem wahrhaftigen Wunsch, Gutes für den anderen zu bewirken.
Sollte dies nicht ein allgemein verbindlicher Wert für alle Menschen sein?